Das „ Russengrab „ in Bevenrode

 

Früher gab es im damals noch 400-Seelen-Dorf Bevenrode zwei Friedhöfe: den ehrwürdigen, jahrhundertealten Kirchhof mit seinen uralten Grabsteinen, die viele alte Geschichten erzählen konnten, den in Buchsbaumhecken oder schmiedeeisernen Zäunen eingefassten Familiengrabstellen und dem wuchernden Efeu. Seit 1000 Jahren hatten hier die Menschen des Dorfes rund um die Kirche die letzte Ruhe gefunden, eine Stätte durchweht von friedvoller Ewigkeit. Und es gab den „neuen“ Friedhof, in den 30er Jahren 400 m vor dem Ort in Richtung Bechtsbüttel angelegt. Betrat ich diesen durch die von zwei Linden eingerahmte Pforte (im germanischen Götterglauben ist das der Eingang in die Unterwelt) , ergriff mich immer ein besonderer Schauder. Gleich zur Linken gab es eine mit einer Hecke eingerahmte Abteilung, in der etwa 20 schwarze Militär- Holzkreuze standen, über die jeweils ein Wehrmachtsstahlhelm gestülpt war. Auf jedem standen Name, Dienstgrad und Lebensdaten eines der jungen Bevenroder Männer, die in ganz Europa im Krieg ihr Leben verloren hatten, eine martialische, aber sehr beeindruckende Gedenkstätte. Sie ist längst ersetzt durch eine schlichte Steinplatte an der Feierhalle mit der Inschrift „ unseren Toten der Weltkriege 1914 – 1918 und 1939 – 1945 zum Gedenken“. Namen haben diese Menschen leider nicht mehr. Am Ende dieses früheren „Soldatenfriedhofs“ aber waren vier echte Soldatengräber und sie sind auch heute noch dort, denn als Kriegsgräber haben sie Dauerrecht. „Gefallen in Bevenrode am 11.4.1945“ steht über den Namen, dem Dienstgrad und den Geburts- und Herkunftsdaten auf dem Stein. Das war der Tag, als durch den Einmarsch der Amerikaner für Bevenrode der 2.Weltkrieg zuende war. Auf der gegenüberliegenden Seite rechts vom Eingang ein weiteres Kriegsgrab, früher mit einem fremdartig anmutenden russischen Holzkreuz versehen, auf das in kyrillischen Buchstaben eine Inschrift aufgemalt war. Lesbar war für mich nur das Todesdatum, der 11.4.1945 (!). Seltsam, der gleiche Tag, aber wie passte das zu dem „Endkampf“ um Bevenrode?

Aber in diesen letzten Kriegswochen war ja alles möglich. Noch vor zwei Wochen hatte die 9. US- Armee von General Simpson, die aber dem englischen Oberbefehlshaber Montgomery unterstellt war, noch bei Wesel am Rhein gekämpft, jetzt am 11.April hatten sie bei Tangermünde schon die Elbe erreicht, es gab keine feste Frontlinie mehr, „Blitzkrieg“ diesmal andersrum. Wenn man das Kettenrasseln herannahender Panzer hörte, konnte man nie genau wissen, wer es denn nun war. Gutes hatte man in diesen Tagen weder von Freund noch Feind zu erwarten. Mein Vater erzählt, dass in Sickte vorsorglich weisse Bettlaken aus den Fenstern gehängt wurden. Wie schnell aber holte man sie wieder rein, als es dann plötzlich eine versprengte SS-Einheit war, die durch den Ort brauste! Was alles hätte passieren können, sieht man daran, dass in der Stadt Braunschweig, während schon Übergabeverhandlungen geführt wurden, gleichzeitig Mordkommandos der NS- Kreisleitung unterwegs waren, um Gegner oder abgefallene Parteigenossen zu liquidieren, auf dem Nussberg wurden Menschen nach Standrecht erschossen. Der Braunschweiger Bürgermeister Dr. Mertens begeht Selbstmord, der Landrat des Landkreises Braunschweig Dr. Bergmann hat das gleiche vor, ist aber nicht sofort tot, sondern wird, schon bewusstlos, auf Befehl des NS- Kreisleiters Heilig in Riddagshausen erschossen. Im KZ Buchenwald entledigen sich an diesem Tag die Häftlinge ihrer SS- Bewacher, auch die zwangsverschleppten und gequälten Fremdarbeiter wittern Morgenluft, wenn sie nicht noch kurz vor dem Ende ermordet wurden. Sieg, Befreiung, Niederlage und Tod liegen in diesen Tagen eng beieinander.

Nun aber wieder zu dem Russen in Bevenrode. Trug er etwa amerikanische Uniform oder war er einer jener unglücklichen „Wlassow- Soldaten“, die auf deutscher Seite gegen die Rote Armee kämpfen sollten? Nein, ich hörte, er hätte im Krieg in Bevenrode gearbeitet. Aber wo hatte er gearbeitet, war er zwangsverschleppt worden oder hatte er sich freiwillig nach Deutschland zum Arbeitseinsatz gemeldet? Und wer hatte ihn am Tag des Einmarsches der Amerikaner nach Bevenrode getötet und warum?

Kürzlich liess ich die Inschrift übersetzen, die in die inzwischen auf dem Grab liegende Steinplatte eingemeisselt ist, und staunte nicht schlecht: es ist gar nicht nicht russisch! Es ist die etwas abweichende ukrainische Schrift, aber sie ergibt keinen kompletten Sinn. Der deutsche Steinmetz konnte mit den ihm unbekannten Buchstaben, die zum Teil auch schon vom früheren Holzkreuz abgeblättert waren, wohl nicht allzuviel anfangen. Erkennbar ist etwas wie „ Ukrainische Abteilung“, „geboren Charkow“ und „Merera“. Herr Merera aus Charkow wohl also, der zweitgrössten Stadt der Ukraine.

Am 11.4. rückten Einheiten der 9. US- Armee aus Richtung Bechtsbüttel kommend in Bevenrode ein. Die angelegten Panzersperren waren eilig entfernt worden, um das Dorf vor der Beschießung zu bewahren. Vom „Volkssturm“ oder gar „Werwolf“ war nichts zu sehen. Der Hof Nr. 1 am Dorfplatz (Mansholt) wurde beschlagnahmt und als Quartier genommen. Es hätte für die meisten ein Ende ohne Schrecken werden können, wenn auch der kleine Hans- Otto das Gefühl hatte, um sein Leben rennen zu müssen, als er die schwerbewaffneten, zum Teil schwarzen US- Soldaten sah, die sich aber letztlich doch anständig verhielten. Dann aber peitschten plötzlich Schüsse durchs Dorf! Eine kleine Gruppe deutscher Soldaten, die sich am Ortsrand eingegraben hatte, eröffnete das Feuer auf die Amerikaner. Wer gab den Befehl und was glaubten sie, damit zu erreichen? Diese jedenfalls schossen zurück und verletzten einen ihrer Gegner. Ein amerikanischer Sanitäter näherte sich ihm, wurde aber plötzlich aus dem Hinterhalt beschossen. Nun gab es kein Halten mehr, die Amerikaner feuerten aus allen Rohren auf das kleine Häuflein. Dann war Ruhe, nur die Schreie und das Stöhnen der sterbenden deutschen Soldaten, einer gerade 16 Jahre alt, war zu hören. Entsetzt und atemlos lauschten die Bevenroder, aber niemand durfte heran, um zu helfen. Nun waren die Gefühle auf beiden Seiten hochgekocht, Misstrauen, Angst, Wut - die Nerven lagen blank. Es soll zu Beschimpfungen und Provokationen gekommen sein, an denen auch Merera beteiligt war. Es gibt unterschiedliche Versionen, was genau passiert ist, am Ende jedenfalls war Herr Merera aus Charkow tot und wurde, 2000 km entfernt von seiner Heimat, wie die deutschen Soldaten auf dem Friedhof in Bevenrode begraben.          Heiner Waßmuß   21.09.2003